Gibt es sie noch? Die alte DDR – die grauen Ecken und die bunten Anoraks – die Männer mit Bart und Einkaufsbeutel – die Läden mit der Gardine im Schaufenster – die „sozialistische Wartegemeinschaft“? Ja, aber an der grauen Ecke steht der Imbißwagen aus Bayern; aus dem bunten Anorak lugt das Kopfhörerkabel und die Menschenschlange steht vor dem Geldautomaten der Sparkasse. Die Antwort auf die Frage nach der alten DDR ist ein klares Jein.
Wie, das wußtet Ihr schon alles? Kein Wunder, ich wußte es ja auch, bevor ich in die „Neuen Länder“ fuhr. Trotzdem war ich da. Um rauszubekommen, wie das mit dem VCP in den Neuen Ländern ist. Gibt es ihn schon? Erleben Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Ost und West dieselben Abenteuer? Die Antwort ist… Aber das wißt Ihr dann sicher auch schon.
Neudietendorf: Neue Blüten aus alten Wurzeln
Die Autobahnabfahrt nach Neudietendorf in Thüringen kann man gar nicht verfehlen. Auf drei Bergen überragen drei Burgen die Landschaft in der Nähe von Erfurt: die „Drei Gleichen“, die gar nicht gleich aussehen. „Drei Gleichen“ heißt auch der VCP-Stamm hier und besteht zur Zeit aus drei Sippen, die bestimmt so verschieden sind wie die Burgen, die ihnen den Namen gegeben haben. Eigentlich haben Pfadfinder hier Tradition. In der Nachbarschaft leben Männer, die sich noch gern an ihre Zeit in der Gruppe „Edelweiß“ Anfang des Jahrhunderts erinnern. Damals traf man sich im Gasthaussaal unter Leitung des „Generals“. Kriegerische Geländespiele waren genauso im Programm wie Mandolinenspiel und die Vermittlung von Arbeit bei den Bauern der Umgebung.
Schon vor dem Ende der DDR hatten die Neudietendorfer Kontakt zu einer Kirchengemeinde in Württemberg, wo es eine große VCP-Gruppe gibt. Jetzt, wo wieder freie Jugendarbeit möglich wurde, lag irgendwie auch die Neugründung von Pfadfindern in der Luft. Da kam viel zusammen: Die Tradition, die alte kirchliche Prägung des Ortes (früher war hier ein Zentrum der Herrnhuter Brüder) und einfach die Lust am Abenteuer. Und schließlich wirkte auch das Beispiel von 400 hessischen Pfadfinderinnen und Pfadfindern, die ihr Lager mitten im Ort machten und den Gottesdienst gemeinsam mit der „Jungen Gemeinde“ feierten.
Es passiert was
Inzwischen treffen sich die Sippen regelmäßig und machen all das, was Pfadfinderinnen und Pfadfinder überall im Land machen. Dazu gehört das Programm im Gruppenraum mit Singen, Knoten und Pfadfinder-„Theorie“, aber auch Wochenendunternehmungen im Freien und Aktionen im Ort. Dabei gibt’es auch viel Neues zu entdecken. So waren manche der Jugendlichen beim Weihnachtsbaumaufstellen zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kirche. Klar, daß sich da gleich eine Besichtigung (mit Glocken!) anschloß. Zu Pfingsten werden die Thüringer ihr erstes großes eigenes Lager machen.
„Gut, daß wir jung sind“
Bernd arbeitet für die Kirche und ist „privat“ Pfadfinder. Er ist aber überzeugt, daß die Gruppe auch für die Gemeinde gut ist, denn er sieht sie als Angebot für solche Jugendliche, die sich für den kirchlichen Unterricht nicht so begeistern. Der VCP soll hier eine Ergänzung sein: christlich geprägt, aber offener als andere Gemeindegruppen. Besonders freut er sich, daß Kinder regelmäßig zur Gruppenstunde kommen, obwohl das völlig freiwillig ist – einfach weil es Spaß macht.
Haben die Kinder und Jugendlichen hier Probleme? Die soziale Lage ist schon sehr angespannt, und auch das Leben für die Kinder ist komplizierter geworden. Plötzlich gibt es ein Schulsystem mit viel mehr verschiedenen Möglichkeiten, und die Eltern wollen natürlich, daß ihr Kind möglichst erfolgreich ist. Nach zwei Jahren sind die Umstellungsschwierigkeiten von der Ost- auf die Westgesellschaft noch nicht überwunden, ganz im Gegenteil: „Vorher hat man’s geahnt, jetzt ist man mittendrin.“ Sorgen macht Bernd, daß viele Jugendliche sich schwertun, Werte zu finden, an denen sie ihr Leben ausrichten. Plötzlich wird so viel Verschiedenes angeboten und löst Verwirrung aus: „Jeder Scheiß wird an sie rangetragen.“ Da wird dann manches Mal fehlender Sinn durch besonders viel Gewalt ersetzt. Aber es gibt auch das andere, daß junge Leute die Veränderungen viel gelassener sehen als ihre Eltern – nach dem Motto: „Gut, daß wir jung sind, bis wir groß sind, ist alles vorbei.“
Orlishausen: Viele Überraschungen
Falls Ihr wissen wollt, wo Orlishausen liegt: bei Sömmerda. Immer wieder merke ich auf meiner Tour, daß ich überhaupt keine Ahnung von Ost-Geographie habe. Schließlich finde ich das Dorf aber doch, und zu meinem Empfang haben sich ein paar Pfadfinder mit Eltern (!) versammelt (mehr über diese Gruppe könnt Ihr im Bericht von Bernd Göller auf Seite 4 lesen). Ich frage reihum alle nach ihrer größten Überraschung mit Pfadfinderinnen und Pfadfindern; hier die Antworten: die große Nachtwanderung bei den Freunden aus Rosenfeld; daß in Orlishausen was passiert; daß mit dem Wort „Hütte“ im Westen ein großes Freizeitheim mit kompletter Küche beschrieben wird; daß man tatsächlich mitbestimmten kann und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Entscheidungen der Gruppe akzeptieren; der tolle Empfang bei der Partnergruppe im Westen „als würden wir uns schon ewig kennen“; wie schnell der Austauschpfarrer alle Namen konnte; daß es auch ohne erwachsene Führung klappt; daß noch alle vom Anfang dabeisind.
„Alles ist geil“
Kurz nach der Wende war es Mode, typische DDR-Wörter zu sammeln. Jetzt frage ich nach neuen Wörtern, die in aller Munde sind, und die es in der DDR nicht gab. „Super“ ist Spitzenreiter, gefolgt von „geil“. Aber auch eine typische Zahlenkombination ist neu: Jeder Preis endet auf 99 Pfennige, was es vorher nicht gab. Tatsächlich ist die Freude an solchen Preisen in den Neuen Ländern wohl noch ausgeprägter als im alten Bundesgebiet. So lese ich wenige Tage später an der Döner-Bude in Ost-Berlin „2,49″, der Mann hinter dem Fenster verlangt aber 2,50. Des Rätsels Lösung entdecke ich auf dem Thresen: eine Plastiktasse mit Pfennigen, falls jemand wirklich auf den exakten Preis Wert legt…
Leipzig: West-Frust
In Leipzig tut man zur Zeit zwei Dinge: Bauen und Autofahren. Diese Kombination führt zwangsläufig zum Stau, in dem ich morgens stehe und eine Bildzeitung erwerbe. Darin ist zur Zeit die Rückbesinnung auf östliche Werte angesagt. So geht es zum Beispiel um die Wurst – die gute Thüringer, versteht sich. Hausfrau Cornelia (48): „Das labberige Zeug aus dem Westen frißt nicht mal unser Dackel.“
Im Gespräch zeigt sich, daß auch der VCP-Landesrat ähnlich kritisch alles betrachtet, was da aus dem Westen kommt: Die Angebote des VCP sind entweder nicht gut genug durchdacht oder zu bürokratisch organisiert, Veranstaltungen zu weit weg oder zu kurzfristig angesetzt, die Zeitschriften und Drucksachen aus Kassel beschäftigen sich entweder zu wenig mit dem Osten, oder man merkt, daß die Leute zu wenig Ahnung von dem haben, worüber sie schreiben, die Gruppen im Westen interessieren sich zu wenig für Kontakte, oder sie erwarten, daß man so weit fahren soll. Überhaupt bringt die Zugehörigkeit zum Verband den Leuten hier zu wenig und kostet sie zu viel Zeit, Geld und Energie…
Auf meinen Einwand hin, daß die Sachsen sicher mehr vom VCP hätten, wenn sie mehr der guten Angebote wahrnehmen würden, findet
Johannes die Kompromißformel: „Euer Angebot ist gut, aber das
brauchen wir nicht.“ Was ihn und die anderen doch noch beim VCP hält, sind nicht die Vorteile des großen Verbandes, sondern es
sind einzelne Menschen, zu denen gute Beziehungen gewachsen sind, zum Beispiel die Partner vom VCP-Bayern.
Berlin: Ohne Kinder läuft nichts
Wer wissen will, wie groß Berlin ist, muß mit der S-Bahn nach Altglienicke rausfahren (das hat nichts mit der Agenten-Brücke zu tun). Einfamilienhäuser am Stadtrand – so stelle ich mir die Gegend vor, in der man besonders leicht eine Pfadfindergruppe gründen kann. Sebastian erzählt mir, daß es nicht ganz so einfach ist. Alle Versuche, Jugendliche um 15 Jahre zu gewinnen, schlugen bisher fehl. Es gab zwar einiges Interesse, aber wenn es dann „pfadfinderischer“ wurde, ließ die Beteiligung deutlich nach. Jetzt versucht er, Jüngere einzuladen: „Bei Wölflingen ist das einfacher, aber dafür hat man auch weniger Möglichkeiten, in der Gruppe etwas zu unternehmen.“
Sebastian selber hat schon seit langem Kontakt zu Pfadfinderinnen und Pfadfindern. Seine Familie hängt mit der „Markschaft Ost“ der CP zusammen, die sich zu DDR-Zeiten als Familienkreis gehalten hat, und sofort nach der Grenzöffnung war er auf Kreuzpfadfindertreffen dabei. Da lernte er dann viele Leute aus dem VCP und anderen Bünden kennen. Beim VCP hat er dann Interesse an einer Mitgliedschaft, für sich und seine Gruppe bekundet. Allerdings gab es auch Verständigungsschwierigkeiten, weil er – wie viele Pfadfinder in den Neuen Ländern – nicht einsah, warum man nur zu einem Verband im Westen guten Kontakt haben sollte. Anderersherum beäugten die Westler (so kam es ihm zumindest vor) argwöhnisch die bindungsscheuen Leute im Osten, die auf mehreren Hochzeiten tanzen wollten.
„Warum ich nicht im VCP bin“
Inzwischen hat Sebastian sich entschieden: Gegen den VCP. Hauptsächlich waren es persönliche Gründe: Seine besten Freunde im Westen waren eben in einem anderen Bund. Aber er nennt mir auf mein Bitten hin auch einige Argumente, die aus seiner Sicht gegen unseren Verband sprechen. So sei der VCP zwar ein „christlicher“ Verband, aber mache keine konsequenten geistlichen Aussagen; und der Bezug der „Arbeitsschwerpunkte“ zur biblischen Botschaft sei nicht auszumachen. Außerdem ist der Verband aus „bündischem“ Blickwinkel nicht attraktiv, da er hier zu wenig Profil hat; vermutlich, weil er von Angestellten geleitet wird, denen oft der Zugang zu dieser Art des Pfadfinder-Seins fehlt. Außerdem habe sich der VCP zu spät, zu halbherzig und zu sehr in Strukturen verfangen in den Neuen Ländern engagiert. Ich führe als Gegenargument auf, im Verband gebe es durchaus auch Raum für Sebastians Vorstellungen von Pfadfinden, und außerdem hätten wir doch ganz andere Möglichkeiten, gerade im Bereich der internationalen Kontakte. Aber das macht wenig Eindruck: „Wichtiger als internationale Möglichkeiten ist, sich einig zu sein.“
Orte gibt’s genug
Was würde Sebastian anders machen, wenn er noch mal mit der Gruppenarbeit beginnen sollte? Er würde gleich auf Jüngere zielen und außerdem schnell feste Westkontakte eingehen. Überhaupt bekomme ich bei den Gesprächen mit Verantwortlichen im Osten immer wieder den Eindruck, daß solche Kontakte eine wesentliche Hilfe für die neuen Gruppen sind. Was können denn die Leute im Westen für Pfadfinderinnen und Pfadfinder im Osten tun? Sebastians Vorschlag ist einfach und einleuchtend und hat an anderer Stelle auch schon gut funktioniert: ein Lager in einem der Neuen Länder machen und in
der örtlichen Presse dazu einladen. Dazu reicht ein Termin vier
Wochen vorher völlig aus. Und die Kinder haben weniger Angst, sich auf Fremdes einzulassen, wenn es in einer vertrauten Umgebung stattfindet und sie Freundinnen nen und Freunde mitnehmen nehmen können. Bei der Suche eines geeigeten Platzes können bestimmt auch Einheimische helfen: „Orte hab ich genug.“
Ueckermünde: Jetzt kommt’s drauf an
Am Oderhaff, in einem der äußersten Zipfel der Republik, bestehen schon etliche VCP-Gruppen. Der Anlaß, daß es mit der Pfadfinderei losging, war der Einsatz von Hans Peter (HP), der als Soldat in diese Gegend versetzt wurde. Jetzt verläßt er sie wieder in Richtung Westen, und die Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Eggesin, Hintersee, Ferdinandshof, Ahlbeck und Ueckermünde müssen zeigen, daß sie ihre Angelegenheiten auch ohne den älteren Partner von „drüben“ regeln können. Als ich nach Altwarp komme, treffen sich gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um Abschied von Hans Peter zu nehmen und gleichzeitig ihre Mitarbeiterschulung zu machen. Hier steht nicht mehr die Frage im Mittelpunkt, wie VCP-Arbeit startet oder warum auch nicht, sondern hier findet schon Alltag statt. Und hier treffe ich die Leute, die diesen Alltag bestimmen: Ronni (den einen), der noch gar nicht so alt ist, aber in Hintersee „die Seele vom Geschäft“; Ronni (den anderen) der so lange mit dem neuen Klappmesser hantiert, bis der Jüngste aus der Gruppe ihm zeigt, wie’s geht; die Lehrerin, die etwas für die Jugendlichen in der Gegend tun will, und in deren Wohnung die ersten Pfadfinder-Zusammenkünfte stattfanden; Andreas, der gleichzeitig Sippenführer, Landesvorsitzender und ABM-Kraft im Landesbüro ist; Steffi, den tibetanischen Buddhisten, der von der Kaserne aus die Ring-Geschäfte führt.
Abschied von den Neuen Ländern
Unterwegs ist mein Bild von den Neuen Ländern zusammengebrochen. Es war im St.-Georgs-Gemeindehaus. Ob das in einem „neuen“ Land liegt? Ich weiß es nicht, aber wohl kaum, denn die Gegend hier sieht schon ziemlich alt aus. Die Häuser sind aus rotem Backstein und nicht aus grauem Beton, die Männer tragen Schiffermützen, niemand redet Sächsisch, und die beiden Mädchen im Büro der Evangelischen Jugend sind eindeutig nicht ost-, sondern norddeutsch. Zur Zeit rufen sie gerade Jugendliche an und laden sie ein, im Sommer mit nach Island zu kommen. Falls das nicht gefällt, haben sie auch Israel im Angebot und den Kurztrip nach Paris. Ich frage nach dem Lebensgefühl junger Menschen in ihrer Stadt. Jetzt sei die Zeit der Entdeckungen, meint Andrea, aber nicht so sehr im Ausland, sondern im eigenen Ort. „Wenn eine neue Spielhalle hier aufmacht, das ist echt das Größte.“ Schade, denke ich, wie bei uns.
Walter Linkmann