Fünf Jahre deutsche Einheit – das war 1995 Anlaß für viele Berichte und Umfragen in der gesamten Republik. Der VCP hat seit 1991 einen Landesverband in Thüringen, in dem mehrere Stämme aktiv arbeiten. Grund genug also, einen Stamm nach seiner persönlichen Bilanz zu fragen.
Auf dem Weg nach Neudietendorf, das westlich von Erfurt liegt, weiß ich noch nicht, daß der Stamm Drei Gleichen sogar doppelt interessant für »Pfadfinden ’96« ist. Eigentlich bin ich unterwegs, um zu erfahren, wie die Arbeit in den »neuen Ländern« vorangeht. Ganz nebenbei erzählen mir die Rover, daß sie ihren Stamm selbst leiten, seit die Erwachsenen aus verschiedenen Gründen ausgeschieden sind. Das Alter meiner Gesprächspartner liegt zwischen 17 und 19 Jahren.
Angefangen hat alles mit einem Lager des VCP-Hessen, das 1991 in Neudietendorf aufgeschlagen wurde. Interesse und Neugier der Jugendlichen im Ort wurden geweckt. Als der Leiter der Christenlehrer nach Interessierten fragte, beschloß man, einfach mal mitzugehen. Viele sind dabei geblieben, »weil’s Spaß macht«. Noch im selben Jahr wurde der Stamm gegründet. Auch das Landesbüro befindet sich in Neudietendorf.
1992 ging es dann »so richtig los«, einen Raum für die Gruppenstunden
fand man in der Kirche, das erste Landeslager wurde im sogenannten Fuchsloch veranstaltet, und man begann mit dem Aufbau des Stammes. Als einer der Mitgründer des Stammes aus beruflichen Gründen die Stammesleitung verlassen mußte, gingen nach und nach auch die anderen Erwachsenen. Trotzdem gaben die Jugendlichen nicht auf. Sie übernahmen alle Pflichten selbst. Heute besteht der Stamm Drei Gleichen aus drei Kinder-, vier Pfadfinder und einer Ranger / Rovergruppe.
Ein Ergebnis, auf das alle Beteiligten stolz sein können, denn einfach war es für die »Neu-Pfadfinder« nicht. Zuerst stand man vor der Frage, mit welchen Inhalten man die Gruppenstunden füllen sollte. Die Arbeitshilfen sprachen die Jugendlichen nur teilweise an. Eine kleine Hilfe bot allerdings die Erinnerung an die Pioniere. Auf meine Frage, was sie denn bei den Pionieren so gemacht haben, erhalte ich viele Antworten: Zum einen habe man Spiel- und Sportnachmittage gemacht, Diavorträge gesehen und gehört, Ausflüge und Ferienlager veranstaltet und dabei viel Spaß gehabt. Zum anderen gab es da aber auch den lästigen Frühsport auf Lagern und das Problem, daß man bei den Pionieren immer von den Lehrern umgeben war. »Wenn man die Ideologie mal vergißt, dann war das gar nicht so schlecht«, sinnieren die Ranger / Rover. Nach und nach fanden sie schließlich zu den Inhalten, die sie interessieren, und sagen von sich, sie seien »gesellschaftlich kulturell« orientiert.
Das zweite und weitaus größere Problem war (und ist bis heute), Eltern und Mitmenschen zu überzeugen, daß die neue Kluft nichts mehr mit den Pionieren zu tun hat und daß man auch sehr gut ohne Erwachsene zurechtkommt.
Diese Überzeugungsarbeit ist besonders dann angesagt, wenn es darum geht, Fahrten oder Lager zu veranstalten; denn manche Eltern möchten ihre Kinder eben nur Erwachsenen anvertrauen. Doch das Engagement der Pfadfinder, die sich bei Festen und ähnlichen Anlässen als Helfer anbieten, hat schon viele überzeugt, daß ihre Kinder hier gut aufgehoben sind.
Zum Schluß stelle ich der Runde noch unsere »Jahresfrage«: Was würdet ihr verändern wollen? Erstmal herrscht Stille im Raum, aber dann legen die Jungs los. Zuerst mal würden sie das Bundeslager nicht ständig nach hinten verschieben, außerdem wünschen sie sich mehr themengerechtes Diskutieren – die Machtkämpfe auf Bundesebene sollen doch bitte unterbleiben. Einen neuen Raum wünschen sie sich und daß nicht alles immer nur vom Geld abhängt. Einen Wunsch haben aber alle gemeinsam: Sie wollen die Leute überzeugen, daß der VCP nichts
Schlechtes ist, keine »paramilitärische Organisation«. Daß die Leute nicht auf der Straße anhalten und ihnen hinterherrufen, daß sie wohl »von gestern« sind.
Annegret Bernhardt, Pfadfinden, Jahrbuch 1996 des Ring deutscher Pfadfinderverbände und des Ring Deutscher Pfadfinderinnenverbände