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Eine Hütte voller Diskussionen – Impressionen vom Thüringer Courageseminar

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Pro und Contra traten aufeinander: Corageseminar im Pfadfinderheim "Kühles Tal" in Friedrichroda

Friedrichroda, ein hübscher verträumter Kurort im Thüringer Wald, sollte nach, unserer Wahl der Qual der Ort des Geschehens werden. Ein wenig abgelegen, mitten im tiefverschneiten Wald, hatten wir für den 26. bis 28. November 1993 unsere Räumlichkeiten, in einem Pfadfinderheim des Deutschen Pfadfinderverbandes, für unser Seminar gefunden.

Freitagabend nach der Anreise begannen wir zur Einstimmung auf das Thema „Aggression und Gewalt“ mit einem Filmtheaterstück „Die böse Revue“ des Kinder- und Jugendtheaters Erfurt „Schotte“. In diesem Theaterstück wurde uns das soziale Umfeld von Jugendlichen in der Schule, im Elternhaus und in ihren vielschichtigen Cliquen an Hand von authentischen Begebenheiten in Erfurt durch Laiendarsteller im Alter von 16 bis 19 Jahren komprimiert vor Augen geführt. Dieses kritische Stück sollte Diskussionsgrundlage für unseren weiteren Seminarverlauf werden.
Im Anschluß an die Filmvorführung wollten wir uns nicht gleich mit Begriffen wie Gewalt, Rassismus, Nazi, Deutsch und Heimat, bezogen auf diesen Theaterbeitrag, theoretisch auseinandersetzen. Vielmehr wollten wir zunächst dieses Thema spielerisch angehen.
Daher versäumten wir nicht, durch Spiele unsere eigenen Vorurteile gegenüber „Asylbewerbern“ und unseren persönlichen Umgang mit Gewalt zu ermitteln, so daß nach diesen Spielteil die Diskussion zum gezeigten Film entfachte. Ein jeder von uns verstand nunmehr, wie wichtig grundlegende präzise Kenntnisse über den Rechtsextremismus sind, so daß wir am nächsten Morgen nach einem üppigen Frühstück mit der systematischen Erarbeitung unserer gesetzten Schwerpunkte beginnen konnten. Mühsam ernährt sich nicht nur das Eichhörnchen, nein, auch so mancher Pfadfinder und so manche Pfadfinderin hatte mit diesen Unmengen von theoretischen und praktischen Fakten zu tun, diese zu verdauen. Mit einigen gemütlichen Unterbrechungen, den liebevoll zubereiteten Mahlzeiten unserer Gastgeber, schafften wir unsere Programmpunkte spielend und auch nachhaltig. Nach dem Abendbrot versuchten wir uns bei loderndem Kaminfeuer und einem Glas Wein in der künstlerischen Umsetzung dieses langdiskutierten Themas. Nicht jedem ging es so spontan von der Hand, doch schließlich nach vielen Überlegungen, Probieren und Humor waren die Plakate fertiggestellt und zur Diskussion freigegeben.
Dabei war besonders spannend, was ein jeder über des anderen Plakatdarstellung zu sagen wußte – demgegenüber, was der jeweilige Autor zu sagen beabsichtigte. Da wir uns mit der Vorstellung trugen, dieser Plakatwettstreit sollte veröffentlicht werden, entschieden wir gemeinsam, daß diese Plakate innerhalb einer Gesamtschule in Erfurt, wo die Pfadfinderarbeit noch nicht so publik ist, wie sich das eine Pfadfinderin dieser Schule wünschen würde, auszustellen. Anschließend sollen diese Plakate in die VCP-Bundeszentrale, um auch das Voranschreiten der VCP-Arbeit in den Neuen Ländern allen Besuchern der Bundeszentrale zu dokumentieren.
Dieser Abend in Friedrichroda war neben einem schwergewichtigen Themenkomplex nicht nur eine geistige Bereicherung in der Auseinandersetzung mit Aggression und Gewalt, vielmehr auch eine persönliche Annäherung der einzelnen Vertreter der verschiedensten Stämme in der noch nicht so üppigen VCP-Landschaft in Thüringen. Die Nacht verging wie im Flug, und die Gespräche wollten nicht abreißen. Auch wenn der Schlaf nur kurz war, aber Morgenstunde hat Gold im Munde, und so verwöhnte uns wieder einmal unsere liebe Gastgeberin Frau Klöppel in ihrer guteingeheizten Küche mit einem ausgezeichneten Frühstück. Während der Essenszeremonie beratschlagten wir über unsere weitere Vorgehensweise. Aufgrund dessen, daß uns unsere Streetworkerin aus Eisenach im Stich gelassen hatte und für diesen Programmausfall noch kein Ersatz geplant war, konnten wir eine Diskussionsrunde zu einem bei Jugendlichen sehr beliebten, aber sehr umstrittenen Lied (Schrei nach Liebe) der Punkgruppe „Die Ärzte“ einschieben, zumal dies von der überwiegenden Mehrheit gefordert wurde. Mehrfach erklang das Lied über die Boxen des Kassettenrecorders, bis endlich die Diskussionsrunde in Gang kam. Pro und Contra trafen aufeinander und keine Einigung. Die einen meinten, und sicherlich auch zu Recht, es würde das Thema vom Freitagabend des gezeigten Filmes aufgreifen und nicht nur rechtsextremistisch tendierende Jugendliche ansprechen, da sie sich mit dem Besungenen identifizieren. Aber zugleich auch eine Aufforderung an diese Betreffenden darstellen, diese dargestellten Begebenheiten zu hinterfragen – „Warum tue ich das? – Ist dieser Weg, den ich beschreite, wirklich der Richtige?“ Dagegen hielt die andere Gruppe unserer Diskussionsrunde, daß man nicht den Kommerz dabei vergessen dürfte, denn dieses Thema verkauft sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt gut, deshalb fand diese Gesprächsgruppe diesen Titel nur oberflächlich. Zwei nicht von der Hand zu weisende Meinungen, wo wir im Abschluß meinten, diese stehen zu lassen, zumal beide Kriterien schon für die Beurteilung von guter Rockmusik mit von Wichtigkeit seien.
In unserer Abschlußrunde kam nochmals zum Ausdruck, daß nicht nur jeder Wissenswertes und ein angenehmes Erlebnis mit nach Hause nimmt, sondern daß auch die nächsten Courage-Seminare 1994 wieder von so guter Atmosphäre und entsprechendem Niveau, zu dem ein jeder beigetragen hatte, sein sollten. (Fortsetzung ist geplant!)
Allen Lesern ein Gut Pfad!

Christine Bellinghausen, Auf Neuem Pfad 02/1994